SCHWANENMARKT 1
Foto: Daniel Sadrowski

Interview: David Wienand

Fotos: Daniel Sadrowski

SCHWANENMARKT 1

Manch aufmerksamen Bochumerinnen und Bochumern ist nicht entgangen, dass sich seit einigen Monaten an einem markanten, allerdings lange Zeit unansehnlichen Ort in der Innenstadt interessante Dinge tun. Wir sprechen vom Schwanenmarkt, dem kurzen Stück zwischen Ostring und Nordring, an dem sich die Castroper Straße Richtung Ruhrstadion hinauszuquälen beginnt. Gemeint ist nicht die aktuelle Fußgänger wie Autofahrer Nerven kostende Baustelle dort, sondern ein einstmals als Kiosk und Toilettenhäuschen dienendes Gebäude, das sich zu einem Ort der Kunst entwickelt hat. Unter der Federführung von Lehrpersonal der Evangelischen Hochschule RWL (EVH) in Bochum und in Zusammenarbeit mit Studierenden entstanden über viele Monate im Rahmen des Projektes »Schwanenmarkt 1 – Reloaded« viele kreative und spannende Arbeiten. Matthias Schamp, ein freischaffender Künstler und Autor und zugleich Lehrbeauftragter an der EVH, Prof. Dr. Helene Skladny, Professorin an der EVH im Fachbereich Soziale Arbeit für Künstlerische Bildung, und Dr. Stephan Strsembski, Kunstwissenschaftler und Ausstellungsmacher sowie ebenfalls Lehrbeauftragter an der EVH, der in Bochum die Galerie Edition Provinz betreibt, ermöglichten David Wienand Einblicke in das Geschehen.

Wie und wann sind Sie zuerst auf den Schwanenmarkt aufmerksam geworden, um dann anschließend dort das Projekt »Schwanenmarkt 1« mit den Studierenden der Evangelischen Hochschule Bochum zu verwirklichen?
Helene Skladny: Die Idee, neben der Hochschule einen alternativen Veranstaltungsort zu haben, besteht schon länger. Als Anfang 2019 aufgrund von Baumaßnahmen vorübergehend die Werkräume der Hochschule nicht genutzt werden konnten, haben wir uns konkret auf die Suche gemacht. Schnell fiel unsere Wahl auf den Schwanenmarkt. Aufgrund seiner zentralen Lage und der unmittelbaren Nähe u. a. zu Kunstmuseum, Fußballstadion, Gefängnis und Planetarium erschien er uns perfekt geeignet. Im Herbst 2019 sind wir dann gestartet.

Wie lange hat es gedauert, bis Sie die Verantwortlichen der Stadt Bochum von Ihrem Projekt überzeugt hatten?
Michael Schamp: Bei der Stadt Bochum haben wir von Anfang an offene Türen eingerannt. Wir haben dem OB die Idee vorgetragen. Und Herr Eiskirch hat uns in der Folge sehr unterstützt. Innerhalb der Stadt wurde »Schwanenmarkt 1« beim Projekt »Tapetenwechsel« angesiedelt, dem Leerstands-Management von Bochum Marketing in der Innenstadt. Damit läuft die Zusammenarbeit extrem effektiv und erfreulich. Große Unterstützung kam auch vom Baudezernat, u. a. indem Herr Dr. Bradtke 2021 den Anschluss des Gebäudes an die Wasser- und Stromleitungen ermöglichte. Aber auch mit allen anderen Abteilungen der Stadt, mit denen wir bislang zu tun hatten, haben wir nur gute Erfahrungen gemacht. Das hat uns selbst oft überrascht.

Gab es Anfangsschwierigkeiten, die erst überwunden werden mussten, bevor es mit dem Kunstprojekt am Schwanen-markt richtig losgehen konnte?
Stephan Strsembski: Nach fast 20-jährigem Leerstand haben wir das Gebäude in einem völlig verfallenen und maroden Zustand übernommen. Das Wasser haben wir in Kanistern vom Museum geholt. Und für Strom hatten wir einen Generator. Dazu gab es ein riesiges Loch im Dach. Kaputte Fenster. Keine Heizung. Jede Menge Müll. Aber darin bestand ja gerade die Chance und Herausforderung: Gemeinsam mit Studierenden der Sozialen Arbeit diesen Ort neu gestalten! Dazu braucht es sowohl Körpereinsatz und handwerkliches Geschick, aber vor allem auch Kreativität und beizeiten unkonventionelle Ideen. Es war von Anfang an unser Konzept: Wir wollten das Gebäude nicht zunächst einmal ertüchtigen, um es dann irgendwann in ferner Zukunft endlich nutzen zu können. Sondern dieser Prozess der Ertüchtigung selbst ist ein essentieller Bestandteil unseres Projekts.
Matthias Schamp: Und seien wir doch mal ehrlich – in welchem intakten Gebäude kann man mal so einfach ein riesiges Loch in die Wand schlagen oder einen ganzen Raum unter Wasser setzen? Gerade der marode Zustand hat uns jede Menge Spaß ermöglicht.

Das Projekt »Schwanenmarkt 1« trägt den Untertitel: »Labor für Kunst & soziale Recherche«. Was konkret darf man sich darunter vorstellen?
Stephan Strsembski: Wir haben diese beiden Standbeine: Die Kunst und die soziale Recherche. Wir arbeiten mit international renommierten Künstlerinnen und Künstlern zusammen. Aber auch mit Newcomern, wenn wir von der Qualität der Arbeiten überzeugt sind.
Helene Skladny: In einem Labor wird geforscht und gearbeitet. Es werden Versuchsanordnungen erprobt und Experimente durchgeführt. Die Studierenden der Sozialen Arbeit sollen keinesfalls zu Kunstschaffenden ausgebildet werden, sondern sich, ganz im Sinne von Joseph Beuys, als Gestalter des sozialen Ganzen erleben. Es geht um die wichtige Erfahrung, dass die Welt nicht starr, sondern gestaltbar ist.

Vom 3. Dezember 2022 bis 29. Januar 2023 fand unter dem Titel „Schwanenmarkt 1 – Expanded« eine Ausstellung der bisherigen Aktivitäten des »Schwanenmarkt 1«-Projekts im Kunstmuseum Bochum statt. Beginnt nun die zweite Phase des Projekts?
Helene Skladny: Es war toll, nach drei Jahren Arbeit einmal die Möglichkeit geboten zu kriegen, eine Art Zwischenbilanz zu ziehen. Und dies dann sogar in Form einer Ausstellung im Kunstmuseum Bochum. Dabei waren wir selbst überrascht, wie viel an Arbeit und Projekten zusammengekommen ist. Wir haben ja sogar in der schwierigen Coronazeit weiter-gearbeitet und mit speziellen Lösungen – den Abstandhalterkostümen – auf diese Situation reagiert. Stephan Strsembski: Aber von einer neuen Phase kann eigentlich nicht die Rede sein. Wir machen weiter wie bisher. Wir haben noch jede Menge Pläne.

Wie sieht Ihre Bilanz und die der Studierenden nach dem Ende der ersten Phase des Projektes aus?
Stephan Strsembski: Wir haben mit den Studierenden zusammen mehrere Großprojekte gestemmt: u. a. die »Gendergeisterbahn«, den »Mauerfall«, »Unter Strom I« und »Unter Strom II«. Dazu ein Geschichtenbüro, eine Ausstellungs-Stellung und eine historische Ausstellung zur Geschichte des Ortes. Wir haben auch den Kontakt zur Hochschule für Architektur aufgenommen und dort haben Studierende unter Leitung von Agnes Giannone Entwürfe für die Gestaltung des Geländes angefertigt, die wir ebenfalls in unserer Museumsausstellung zeigen konnten. Dazu gab es drei „Transformative Ausstellungen“ mit auf den Ort bezogener Kunst.
Matthias Schamp: Nicht zu vergessen die unzähligen Arbeitseinsätze.
Helene Skladny: Und nicht nur das. Der Schwanenmarkt soll auch ein Ort der Begegnung und des gemeinsamen Feierns sein. Mit Feuertonne, Glühwein und Musik. Hier erweitern wir den Laborgedanken ein wenig …

Welche konkreten Pläne haben Sie für die nächsten Monate für den Schwanenmarkt im Hinterkopf?
Matthias Schamp: Lassen sie sich überraschen! Sobald es wieder wärmer wird, geht es los mit diversen Veranstaltungen. U. a. werden wir ein Fenster zutrinken und unser Straßenkino zum Laufen bringen.
Stephan Strsembski: Und was die eigentliche Renovierung anbelangt: Da hoffen wir, in diesem Jahr endlich eine Toilette hinzubekommen. Das ist ja eigentlich ein Witz. Denn es ist ja ein ehemaliges Toilettenhäuschen. Und wir haben in dem Gebäude auch vier Klos. Aber kein einziges funktioniert.

Derzeit befindet sich der gesamte Kreuzungsbereich vor dem Schwanenmarkt im Umbau. Wird das die Möglichkeiten für Ihre weiteren Aktivitäten einschränken?
Matthias Schamp: Eigentlich ist so eine Baustelle ja auch etwas Faszinierendes! Wir wollen sie in diesem Jahr viel mehr in unsere Pläne einbeziehen und künstlerisch damit interagieren.

Wie können sich interessierte Bochumer Bürgerinnen und Bürger über die weiteren Aktionen am Schwanenmarkt auf dem Laufenden halten?
Stephan Strsembski: Wir haben eine Homepage mit ausführlichen Informationen zu allen bisherigen Aktivitäten: www.schwanenmarkt1.de. Da gibt es auch einen Link zu unserer Emailadresse info@schwanenmarkt1.de. Dort kann man sich melden und den Newsletter ordern.

Haben Sie nicht doch auch den Wunsch, das ehemalige Kiosk- und Toilettengebäude am Schwanenmarkt, das die Stadt Ihnen ja nur zeitlich begrenzt für das Projekt zur Verfügung gestellt hat, auch nach dem Ende des Projekts vor einem möglichen Abriss und somit dem Verschwinden zu bewahren? Etwa dadurch, dass ihm durch das Projekt so viel Aufmerksamkeit zuteilwurde, dass die Menschen sich wieder an diesen Ort erinnern?
Matthias Schamp: Es war von Anfang an unser Deal mit der Stadt: »Schwanenmarkt 1« ist eine Zwischennutzung. Wir dürfen das Gebäude so lange nutzen, bis das Gelände – das ja den ganzen Brachstreifen, den Bahndamm entlang bis zum Nordbahnhof umfasst – in irgendeiner Form entwickelt wird. Und wir werden uns an diesen Deal halten. Natürlich ist es vorstellbar, dass die Stadt irgendwann den Wert von »Schwanenmarkt 1« so hoch veranschlagt, dass bei einer künftigen Entwicklung des Geländes unser Projekt in ihre Pläne einbezogen wird. Rein emotional würden wir das verständlicherweise begrüßen. Aber dies liegt im Ermessen der Stadt. Und wir fügen uns widerspruchslos auch jeder anderen Entscheidung. Das ist wichtig, weil wir auch eine Verantwortung der freien Szene gegenüber haben. Nur deshalb werden Zwischennutzungen ja oft nicht zugelassen: weil es seitens der Immobilienbesitzer diese – sicher nicht ganz unbegründete – Angst gibt, eventuelle Nutzer nie oder nur schwer wieder loszuwerden. Aber Zwischennutzungen sind sinnvoll! Wenn dieses Mittel konsequent angewendet wird, kann es ein Segen für die freie Szene sein. Deshalb erweist jeder, der sich nach einer Zwischennutzung gegen den Auszug sträubt, allen anderen einen Bärendienst, die auch gern von einer solchen Möglichkeit profitieren würden. Das wäre unsolidarisch.

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